Liebe statt Religion
„Ich wünsche mir, dass wir alle eine Gemeinschaft werden“, sagt Buddhist Tsering Dorjee (28). Er erklärt, warum für ihn Liebe und Mitgefühl wichtiger als Religionen sind.
„Es gibt Menschen, die Millionen von Dollars oder Euros besitzen und trotzdem nicht glücklich sind. Ihre Gier ist gross, sie wollen immer noch mehr haben. Umgekehrt kenne ich Leute, die sehr bescheiden leben und doch zufrieden sind. Das zeigt klar, dass Geld und Besitz nicht glücklich machen. Glück ist nicht von Konsum oder Besitz abhängig. Glück kommt von innen“, sagt Tsering Dorjee. Der Tibeter weiss, wovon er spricht. Als Sohn eines Bauern und Nomaden ist der 28-Jährige unter einfachsten Verhältnissen in einem Tal, 2 Stunden von Tibets Hauptstadt Lhasa entfernt, aufgewachsen. Er war erst 5 Jahre alt, als seine Mutter starb. „Ich ging nur 3 Jahre lang zur Schule. Danach wollte mein Vater, dass ich ihm bei der Arbeit mit den Tieren helfe“, erklärt er.
Ein Traum wird wahr
Tsering Dorjee ist Buddhist. Jeden Morgen und jeden Abend betet er 20 bis 30 Minuten lang, allerdings nicht nur für sich, sondern für die ganze Welt. „Es wäre egoistisch und falsch, wenn ich beim Gebet nur an mich selber denken würde“, ist er überzeugt. Jeden Sonntag meditiert er 2 bis 3 Stunden lang. „Der Buddhismus ist sehr wichtig für mich. Mein grösster Traum war es, einmal den Dalai Lama zu sehen. Dieser Traum wurde heuer in Basel erfüllt. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich ihm begegnet bin“, schwärmt der Tibeter. Der Dalai Lama habe mit seinen Büchern Millionen von Menschen inspiriert. „Seine Worte und Botschaften sind auch für Menschen mit schlechter Schulbildung verständlich. Dank ihm habe ich viel gelernt.“
„Religionen und Nationen schaffen Distanz“
Der Buddhismus ist per Definition keine Religion, weil Buddha selber immer wieder dazu aufforderte, seine Lehre zu prüfen und hinterfragen. „Ich respektiere alle Glaubensrichtungen und Menschen, doch Religionen sind für mich nichts Gutes. Sie haben weltweit zu vielen Konflikten und zu viel Leid geführt. Unzählige Menschen mussten deswegen sterben. Für mich sind Mitgefühl, Liebe, Ehrlichkeit und Freundlichkeit zentral im Leben“, erklärt der Flüchtling, der seit November 2014 in Muotathal lebt. Die Art und Weise, wie wir Menschen zwischen Religionen, Kulturen und Nationen differenzieren und so viel Distanz schaffen, stört Tsering Dorjee. „Ich mag es nicht, wenn wir ständig betonen, woher wir kommen und wie verschieden wir sind. Ich wünsche mir, dass wir auf dieser Welt eine Gemeinschaft werden. Wenn wir uns alle vereinen, brauchen wir keine Waffen und Armeen mehr.“
Flucht in die Schweiz
Was Unterdrückung bedeutet, musste Tsering Dorjee am eigenen Leib erfahren. „Ich bin Tibeter und nicht Chinese. Ich will ein freies Tibet“, forderte er gegenüber dem chinesischen Regime. Nach diesen Worten nahm sein Leben 2013 eine unerwartete Wende. Von einem Tag auf den anderen musste er über die Berge nach Nepal fliehen. Später flog er von dort via Thailand in die Schweiz. Das Flugticket hatte ihm sein Onkel bezahlt. Zeit, um sich von seiner Familie zu verabschieden, blieb ihm keine. „Ich vermisse meine Familie sehr. Leider kann ich nicht mit meinem Vater telefonieren. Ich befürchte, dass es schlimme Konsequenzen für ihn haben würde, wenn die Chinesen erfahren, dass ich in die Schweiz geflohen bin“, sagt er. Er hofft, dass er seinen Vater eines Tages wieder sehen darf. Doch der Buddhist ist kein Mensch, der sich über seine Situation beklagt. Immer wieder betont er, welches Glück er habe, dass er seit Juni 2014 in der Schweiz leben dürfe. „Ich bin hier sehr glücklich. Ich möchte mich bei den Schweizern bedanken, dass sie mich unterstützen und mir neue Perspektiven ermöglichen. Sie erlauben uns Asylsuchenden, hier zu sein.“
Der Tibeter versucht sein Leben so zu gestalten ohne seine Mitmenschen zu verletzen. „Wenn wir anderen Menschen gegenüber liebevoll und rücksichtsvoll sind, geht es uns selber auch besser. Wir Buddhisten geben uns Mühe, positiv zu denken und anderen zu helfen. Wir wissen, dass alle Menschen auf der Welt eine Gemeinsamkeit haben: Sie alle möchten glücklich sein.“
Serie „Im Namen Gottes“
In der Schweiz herrscht Religionsfreiheit. Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in der Gemeinschaft mit anderen zu bekennen. Welchen Stellenwert hat die Religion im Leben der Schwyzerinnen und Schwyzer? Wie erleben oder spüren sie Gott? In der Serie „Im Namen Gottes“ werden Menschen verschiedener Glaubensrichtungen vorgestellt.