Freundschaft bis zum Tod
Sandy Inderbitzin (35) unterstützt Frauen im Todestrakt in Gatesville/USA. Sie ist vom starken Willen der Gefangenen beeindruckt, fühlt sich aber manchmal hilflos.
„Ich war extrem nervös. Als ich in London am Gate auf meinen Flug wartete, fragte ich mich, was ich bloss mache! Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde“, erzählt Sandy Inderbitzin. Die 35-jährige Schwyzerin war im Mai 2012 auf dem Weg nach Dallas. Zum ersten Mal würde sie ihre Brieffreundin *Iris besuchen. Die 42-jährige Amerikanerin ist keine gewöhnliche Amerikanerin. Sie sitzt in Gatesville/Texas in der Todeszelle. Sie hatte 1997 im Drogenrausch einen 84-jährigen Mann umgebracht. Iris sagt, dass es Notwehr war, weil der Mann sie angegriffen hatte. Doch das amerikanische Justizsystem hatte kein Gehör dafür. Iris wurde 1998 zum Tode verurteilt.
60 Frauen im Todestrakt
Während in den Todeszellen der USA rund 3200 Männer sitzen, sind es nur knapp 60 Frauen in den gesamten Vereinigten Staaten. Iris befindet sich im Frauengefängnis Gatesville hinter Gittern. Sandy Inderbitzin hatte ihr im Oktober 2011 zum ersten Mal geschrieben. „Die Frauen im Todestrakt sind Menschen wie Sie und ich. Für sie ist es ein Highlight, wenn sie Besuch aus Europa bekommen“, sagt die Informatikerin. Dass nicht nur Besuche sondern auch Briefe einen grosse Bedeutung haben, merkte die Schwyzerin schnell. „Plötzlich schrieben mir alle 7 Frauen von Gatesville. Sie sind mir schnell ans Herz gewachsen.“
Sandy Inderbitzin wollte den Frauen, die alle wegen Mord und weiteren Straftaten zum Tode verurteilt wurden, zum ersten Mal persönlich begegnen. „Meine grösste Sorge war, dass ich das richtige Gefängnis finden würde“, erzählt sie. Ein Gefängniswächter vor Ort half ihr weiter und erklärte ihr, wo sie mit ihrem Auto hinfahren und parkieren müsse. Er sagte ihr zudem, dass sie im Auto bleiben und dort warten müsse, bis sie vom Gefängnispersonal abgeholt würde. „Das Auto wurde gründlich durchsucht, Kofferraum, Handschuhfach und Motorhaube wurden geöffnet.“ Anschliessend wurde die Schwyzerin vom Gefängniswärter begleitet und beim Eingang mit einem Detektor untersucht.
„Wie Tiere behandelt“
Iris wartete bereits in einem Besuchskäfig auf sie. „Der Anblick machte mich traurig und wütend. Die Frauen werden wie Affen in einem Käfig gehalten. Der Käfig ist so klein, dass sie sich kaum bewegen können. Sie werden wie Tiere behandelt!“ Nur wenn die Straftäterinnen bereit sind, im Gefängnis zu arbeiten, erhalten sie einige Privilegien. Zwar bekommen sie keinen Lohn dafür, dürfen dann jedoch ihren Besuch in einem grösseren Raum empfangen, doch auch dann hinter dickem Panzerglas. Nicht einmal Familienmitgliedern ist es erlaubt, die Gefangenen einmal in den Arm zu nehmen. Weitere Privilegien sind Fernsehschauen im Gemeinschaftsraum und längere Aufenthalte im Freien – alles aber hinter Stacheldraht. „Wer nicht arbeiten will, muss 23 Stunden am Tag in der Zelle bleiben“, weiss Inderbitzin.
Durchschnittlich 15 Jahre warten die verurteilten Frauen in der Todeszelle, bis sie schliesslich hingerichtet werden. Aktuell befinden sich 6 Frauen, alle zwischen 40 und 50 Jahre alt, in Gatesville. „Einige sind müde von der Tortur und resignieren. Doch die meisten Frauen verfügen über einen enormen Willen, dort rauszukommen. Sie sind erstaunlich stark und gebe die Hoffnung nicht auf“, so Inderbitzin. Obwohl viele Menschen meinen, dass sie in dieser Situation kapitulieren würden, sei es beeindruckend mitzuerleben, wie viel der Mensch letztlich aushalten könne. „Ich glaube, dass Menschen grundsätzlich viel stärker sind, als man denkt. Auch in so einer schlimmen Situation versucht man, das Beste aus der Situation zu machen.“ Dass die Frauen im Todestrakt trotz der schlimmen Verhältnisse noch psychisch und geistig gesund seien, grenze an ein Wunder. „Sie sind liebenswerte und herzliche Menschen. Ich werde versuchen, ihr Aufenthalt im Gefängnis so erträglich wie möglich zu machen.“ Jeden Tag schreibt die 35-Jährige Emails, die noch am gleichen oder darauf folgendem Tag nach Gatesville gelangen und dort vom Gefängnispersonal ausgedruckt werden. Ausserdem überweist sie den Inhaftierten Geld, damit sie sich Essen oder Briefmarken kaufen können.
9 Desserts an einem Tag?
Warum aber setzt sich Sandy Inderbitzin für Frauen in den Todeszellen ein? „Weil ich ihnen eine Stimme geben will. Es ist menschenunwürdig, wie sie gehalten und behandelt werden. Selbst Hunde haben es besser als sie.“ Manchmal funktioniere die Heizung nicht und in den Zellen sei es minus 10 Grad kalt. „Niemand interessiert sich sonderlich dafür. Die Frauen sitzen dann frierend mit 5 Schichten Kleidern in ihren Zellen. Oder wenn das Dach kaputt ist und Wasser in die Zellen tropft, stört das auch keinen.“ Das Essen sei eine Zumutung. „Gemüse und Früchte gibt es so gut wie nie. An Thanksgiving und Weihnachten werden die Frauen aber wie Fürsten bekocht. Sie erhalten dann beispielsweise 9 Desserts. Das ist absolut Schwachsinn, weil niemand 9 Desserts auf‘s Mal essen kann!“
Da viele Gefängnisse in Amerika privatisiert sind, sorgen die Betreiber dafür, dass ihre Kosten so tief wie möglich bleiben. „Sie wollen nicht, dass es den Frauen und Männern gut geht. Und sie sind natürlich auch nicht daran interessiert, dass es jemand aus der Todeszelle schafft, da dies ein finanzieller Verlust für sie bedeuten würde.“ Das Schlimmste, so betont die 35-Jährige, sei aber, dass die meisten der Todeskandidaten kein faires Strafverfahren bekommen hätten. „Das sind oft Menschen, die sich keinen Strafverteidiger leisten können. Mit einem Pflichtverteidiger haben sie keinerlei Aussichten auf eine gerechte Behandlung. Diese Anwälte reden nicht einmal mit den Angeklagten vor der Verhandlung. Manchmal sind sie betrunken, manchmal stellt sich sogar heraus, dass sie mit dem Staatsanwalt befreundet sind.“
Wut
Sandy Inderbitzin ist überzeugt, dass die Todesstrafe in Amerika jeden treffen kann. „Bist du am falschen Zeitpunkt am falschen Ort, ist es schnell passiert. Wenn du in Amerika zum Tod verurteilt bist, ob schuldig oder unschuldig, dann gerätst du in eine Mühle, die dich viele Jahre deines Lebens kosten wird.“ Aus Angst davor, selber einmal Opfer des Justizsystem zu werden, hält sie sich bei ihrem Besuchen in Amerika grösstenteils nur im Hotel auf. Die Schwyzerin ist wütend auf den amerikanischen Staat. „Die Todesstrafe gehört doch längst abgeschafft! Ausgerechnet die Amerikaner, die sich überall einmischen und ihre Macht ausspielen, wenden solche barbarischen Methoden an. Sie behandeln die Gefängnisinsassen wie den letzten Dreck. Sie kennen keine Rehabilitation, auch 18-jährige Burschen werden zum Tod verurteilt.“ Aus diesem Grund setzt sich die Informatikerin auch ehrenamtlich für die Schweizer Organisation Lifespark ein. Sie realisierte zusammen mit dem Vorstandsmitglied Viviane Zogg die Website.
Insgesamt sieben Mal war Sandy Inderbitzin inzwischen in Gatesville. Die Besuche und Begegnungen haben sie verändert. „Manchmal fühle ich mich extrem hilflos. Ich kann die Frauen nur moralisch unterstützen, ansonsten sind mir die Hände gebunden.“ Ein Mann und zwei Frauen, welche sie persönlich kannte, wurden inzwischen hingerichtet. „Das ist schlimm. Doch es bringt niemandem etwas, wenn ich weine. Ich muss stark bleiben und nicht aufgeben. Ich will für diese Frauen da sein.“
*Name ist der Redaktion bekannt und wurde zum Schutz der Inhaftierten geändert.
Hinweis: Weitere Informationen zu Lifespark unter www.lifespark.org.