„Freier sind das Kapital der Sexarbeiterinnen“
Annemarie Scheidegger (62) aus Giswil setzt sich für Sexarbeiterinnen im Strassenstrich ein. Nur wenige Menschen aus ihrem Freundeskreis wissen von diesen Einsätzen. „Zu erleben, unter welchen harten Bedingungen die Prostituierten arbeiten, ist fordernd. Diese Frauen kämpfen um ihre Existenz. Für mich sind das mutige Frauen“, sagt sie.
Dunkelheit. Kälte. Ausharren, ohne ein warmes Dach über dem Kopf zu haben. Unter diesen Bedingungen arbeiten die Sexarbeiterinnen auf dem Luzerner Strassenstrich im Gebiet Ibach. „Es ist kein schönes Arbeitsumfeld. Die leicht bekleideten Frauen mit ihren langen, schönen Beinen warten in der Kälte auf ihre Arbeit. Ich finde, dass diese Frauen Ausserordentliches leisten“, sagt Annemarie Scheidegger. Die frühere Leiterin der Amtsvormundschaft Luzern hat sich bereit erklärt, Freiwilligenarbeit auf dem Luzerner Strassenstrich zu leisten. Sie ist seit Mitte Dezember 2013 für das Projekt Hotspot im Einsatz. Was hat die 62-Jährige motiviert, sich für Frauen im Sexgewerbe zu engagieren? „Ich hatte viel Glück im Leben. Ich habe 35 Jahre lang gearbeitet und bin nun pensioniert. Für mich war klar, dass ich etwas von meinem Glück zurückgeben will“, erklärt sie.
„Sexarbeit gehört zum Leben“
Annemarie Scheidegger sitzt in ihrer modernen und stilvoll eingerichteten Wohnung in Gisikon. Sie offeriert einen feinen Mangotee und Süssigkeiten. Ihr schönes Zuhause bildet einen grossen Kontrast zu ihrem künftigen Arbeitsumfeld. Doch die elegante Frau kennt keine Hemmungen und Berührungsängste: „Sexarbeit gehört zur Menschheit und zum Leben. Diese hat es schon immer gegeben. Sie ist ein Bedürfnis, welches aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken ist.“ Es sei oft zu hören, dass die Frauen im Sexgewerbe keine Würde mehr hätten. Damit habe sie Mühe, erklärt die Mutter einer erwachsenen Tochter. Natürlich würden die Sexarbeiterinnen eine Arbeit erledigen, von der man behaupten könnte, dass sie nicht viel Würde beinhalte. „Doch wenn man berücksichtigt, was diese Frauen für ihre Kinder und Familien leisten, dann dürfen wir nicht von unwürdig sprechen. Für mich sind das mutige Frauen.“
„Ich habe eine Heiterkeit wahrgenommen“
Mehrere Male war Annemarie Scheidegger bereits zusammen mit Projektleiterin Birgitte Snefstrup im Gebiet Ibach unterwegs. Dank dieser Besuche konnte sie erste Eindrücke vom Strassenstrich gewinnen. „Die Sexarbeiterinnen sind sehr freundlich. Zeitweise hatte ich das Gefühl, dass sie untereinander Freundschaften geschlossen haben. Es sind sehr anmutige Frauen. Wenn sie anders gekleidet wären, würde man nicht merken, dass sie im Sexgewerbe tätig sind“, sagt Scheidegger. Sie habe erlebt, wie sich die Sexarbeiterinnen im Gebüsch umgezogen hätten. „Sie haben gelacht, während sie ihre Strümpfe und hohen Schuhe angezogen haben. Mir ist aufgefallen, dass die Frauen sehr jung waren. Ich habe eine Heiterkeit wahrgenommen. Ich habe nicht in gequälte oder traurige Gesichter gesehen“, betont die 62-Jährige. Sie sei aber jeweils nur bis 23 Uhr vor Ort gewesen. „Ich kann mir schon vorstellen, dass zu einer späteren Stunde auch Einsamkeit, Trauer und weniger heitere Gesichter zu sehen wären.“Der finanzielle Druck, dem diese Frauen wegen der grossen Konkurrenz im Sexgewerbe ausgesetzt seien, findet Scheidegger enorm. „Immer wieder war von den Frauen zu erfahren, dass das Geschäft nicht mehr gut läuft. Die Freier handeln mit den Sexarbeiterinnen den Preis herunter. Es sind teilweise unverschämt niedrige Preise, die vereinbart werden.“
Annemarie Scheidegger hat wenige Freunde über ihre künftigen Einsätze auf dem Strassenstrich informiert. „Die meisten wissen nichts davon.“ Sie habe aber einer „sehr gebildeten Person“ von der Freiwilligenarbeit erzählt. „Sie war sehr konsterniert, dass ich solche Arbeit mache. Doch mit dieser Meinung kann ich nichts anfangen. Für mich ist es nicht so, dass meine frühere Arbeit als Führungskraft wertvoller als diese Arbeit wäre.“ Auch ihre Tochter habe ihre Bedenken mitgeteilt, weil sie sich Sorgen um ihre Mutter mache. „Sie hat Angst, dass ich nicht mehr nach Hause komme oder dass mir Gewalt angetan wird. Das ist verständlich. Doch ich glaube nicht, dass mir etwas passieren wird. Ich tue ja nichts Unüberlegtes.“ Es liege ihr auch fern, die Sexarbeiterinnen belehren oder zu einem Ausstieg aus dem Sexmilieu bewegen zu wollen. Ihr sei wichtig, dass sie im geheizten Container einen warmen Tee oder Kaffee bekommen können. Die Verantwortlichen sind ausserdem auf der Suche nach einer Bäckerei, die Backwaren für die Sexarbeiterinnen zur Verfügung stellt, die am nächsten Tag nicht mehr verkauft werden können. „Wenn die Frauen in Not sind oder Sorgen haben, sind wir eine Anlaufstelle. Wenn es ihnen schlecht geht, können sie das bei uns deponieren. Wir versuchen gemeinsam eine Lösung zu finden.“ Sie hoffe, dass mit der Zeit durch Vertrauen Beziehungen aufgebaut werden können.
„Das finde ich schrecklich“
Die Luzernerin betont, dass sie sich nicht gegen die Freier sondern immer für die Frauen engagieren werde. Sie weiss: „Die Freier sind das Kapital der Sexarbeiterinnen.“ Sicher ist Annemarie Scheidegger eine starke Frau. Trotzdem ist zu spüren, dass sie die Bilder und Erlebnisse vom Strassenstrich bewegen. „Zwischen dem Lesen über den Strassenstrich und dem Erfahren, was sich da abspielt, besteht ein grosser Unterschied. Wenn ich sehe, dass diese Frauen in Autos einsteigen und wegfahren, löst das bei mir Sorgen aus. Ich frage mich, ob sie wieder heil zurück kommen. Das zu beobachten würde ich als Herausforderung bezeichnen.“ Niemand wisse, wohin die Frauen gefahren werden. „Man steht da und hofft, dass sie wieder zurück kommen.“ Zu erleben, unter welchen harten Bedingungen die Prostituierten arbeiten, sei fordernd. „Sie kämpfen um ihre Existenz. Sie arbeiten auf einem Areal, das eigentlich für solche Arbeit ungünstig ist. Ich denke dann auch an all die jungen Frauen, die das Privileg haben, einen gesellschaftlich anerkannten Berufsweg einschlagen zu können.“ „Das macht mich traurig.“ Schlimm findet die 62-Jährige, wenn Frauen im Sexgewerbe mit Gewalt konfrontiert werden. „In ein Gesicht zu blicken, das Unsicherheit und Misstrauen ausstrahlt, macht mich traurig. Dass es Freier gibt, die gewalttätig werden, finde ich schrecklich. Ich will dieses Erschrecken behalten und nicht abstumpfen lassen. Offenbar haben wir in unserer Gesellschaft ein Problem mit der Gewalt.“ Das sei ein äusserst bedenklicher Zustand.
Was hat Annemarie Scheidegger von ihren ersten Abenden im Strassenstrich gelernt? „Die Erkenntnis, dass diese Frauen wenig Akzeptanz erfahren und unglaublich mutig sind. Vermutlich führen sie ein gespaltenes Leben. Ich habe wahrgenommen, dass die Sexarbeiterinnen offene Seelen haben. Als ich jünger war, dachte ich, was das bloss für Frauen seien, die ihren Körper verkaufen. Ich habe mich gefragt, warum sie das tun. Heute weiss ich: Das sind Frauen wie Sie und ich, besondere Lebensumstände haben sie dazu gebracht.“
Das Projekt Hotspot ist ein professionelles Beratungsangebot für Sexarbeiterinnen. Das Pilotprojekt wird hauptsächlich von Kanton und Stadt Luzern finanziert. Seit Dezember 2013 sind im Gebiet Ibach zweimal pro Woche zwei Beraterinnern während drei Stunden auf dem Strassenstrich anwesend. Für die Beratung steht ein Container zur Verfügung, zu dem nur die Beraterinnen und die Sexarbeiterinnen Zutritt haben werden. Den Frauen werden Kondome, Gleitmittel und Informationsbroschüren abgegeben. Sie werden über gesundheitliche Themen, Gewaltprävention, Sicherheit, Aufenthaltsbestimmungen und andere rechtliche Fragen informiert. Im Gemeinsamen Gespräch will man herausfinden, welche Bedürfnisse und Anliegen die Sexarbeiterinnen haben.